Selbst E.M. Cioran, traurigster Denker des 20. Jahrhunderts, wurde mal vom Glück bedroht
...Nur Lebensablehnung, nur Einsamkeit und Trauer. Cioran ist so sehr in seine Traurigkeit versunken, daß es manchmal wie von selbst aus ihm zu trauern scheint: „Ich lebe in einer automatischen Traurigkeit, ich bin ein elegischer Roboter."
Und dann geschah das: Im Februar 1981 bekam er Post aus Deutschland. Es war nicht eines der üblichen Schreiben sympathisierender Selbstmordapologeten, die er in so großer, großer Zahl erhielt, sondern der Brief einer Verehrerin, Friedgard aus Köln, die ihm mitteilte, sein Werk wirke auf sie erhebend und regenerierend, und es entwickelte sich eine Art Liebesgeschichte in Briefen, die Friedgard Thoma jetzt, sechs Jahre nach Ciorans Tod, als Buch herausgegeben hat.
Es ist: ein Liebesbuch, und es zeigt den Meister der Lebensverachtung in einer etwas peinlichen Lage: Cioran hatte sich in seine junge Verehrerin verliebt, sie trafen sich, sie machte ihm Hoffnungen, er war beglückt und schrieb: „Meine Skepsis, die bis jetzt so behilflich war, scheint mich verlassen zu haben." Aller Verzweiflungsschutz war fort, sogar der Zynismus hat ihn verlassen...
...noch radikaler als in den Cahiers sehen wir den Unglücksmeister in einer Pose, in der er sich nur ungern sehen lassen wollte. Mitunter fast als glücklicher Mensch, zumindest als ironiebereiter, großer Durchhalter: „Es lohnt sich zu leben", schreibt er...an die geliebte Friedgard... Am Ende also- der elegische Roboter im Glück?...
Franfurter Allgemeine Sonntagszeitung
25.11.2001