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Unheiliger Cioran

Unheiliger Cioran
Ein kritischer Versuch von Thomas Stölzel

«Begegnungen mit E. M. Cioran» – so lautet der vielversprechende Untertitel zu einem unlängst erschienenen Büchlein über den rumänisch-französischen Aphoristiker und Essayisten, der eigentlich Emilian M. Cioranescu hiess und sich selbst, als Autor, auf den prekären Status eines «Säulenheiligen ohne Säule» festlegte. – Die zwei Begegnungen, von denen der deutsche Philosoph Thomas Stölzel berichten kann, fanden im Sommer 1992 in Paris statt; sie beschränkten sich auf einen knappen Wortwechsel – par hasard – in einer Buchhandlung und auf ein eher banales Tischgespräch in Ciorans damaliger Wohnung. Die Rekapitulation der Gespräche benötigt denn auch, naturgemäss, nur ein paar wenige Druckseiten, und was Stölzel im weitern mit aufwendiger Rhetorik vor dem Leser ausbreitet, ist nicht viel mehr als eine kommentierte Zitatcollage aus andern Gesprächen, die Cioran mit andern Partnern geführt hat (und die alle bereits auch in deutscher Übersetzung greifbar sind), angereichert durch kurze Werkauszüge, anhand deren insbesondere die persönliche Integrität des Autors kritisch überprüft, bisweilen auch in Zweifel gezogen wird.

Ständig schwankend zwischen Bewunderung und dezidierter Abneigung, reiht Stölzel seine Paragraphen aneinander – biographische Momentaufnahmen und physiognomische Fragmente, Hinweise auf Themen und Motive, auf literarische Formen und Verfahren, auf philosophische Quellen und Einflüsse, nicht zuletzt auch auf Widersprüche zwischen Werk und Leben, zwischen Form und Inhalt, jedoch ohne den Widerspruch als provokative Denkfigur zu reflektieren oder weiterzudenken. Es bleibt bei der Aufzählung und Deskription längst bekannter Tatsachen, um nicht zu sagen – Gemeinplätze. Das meiste wird bloss angetippt, mit Lob oder Tadel abgefertigt, dann abgehakt; eine «Begegnung», die als Auseinandersetzung für den Leser von Interesse wäre, findet nicht statt. Da Ciorans Text durchweg als ein Dokument autotherapeutischer Schreibarbeit verstanden, mithin missverstanden wird, vermag er letztlich nicht über sich selbst hinauszuweisen, verflacht zum narzisstischen Monolog. Stölzel bleibt dabei: «Was Cioran mit seinem karpatisch-kathartischen Schreib- und Denkstil an sich betrieb und vorführte, könnte man auch als eine höchst eigenwillige Form der Autopsychoanalyse bezeichnen.» Und demzufolge wird nicht der Text als das gelesen, was dasteht, vielmehr der Autor als der, der im Text sich widerspiegelt.

Durchaus diskutabel sind im übrigen Stölzels kritische Hinweise auf metaphysischen Schwulst und metaphorischen Kitsch beim jungen Cioran, auf seinen «misogynen Extremismus» und andere reaktionäre Konstanten seines Denkens. Den bekannten Vorwurf, wonach Cioran mit dem Nationalsozialismus sympathisiert habe und vorübergehend gar als «Barde des Führers» publizistisch tätig gewesen sei, greift auch Stölzel andeutungsweise auf, ohne dazu irgendwelche neuen Erkenntnisse oder Belege beizubringen. Dass der einzelgängerische «Karpaten-Buddhist» auch damals noch unter dem bestimmenden Einfluss des russisch-jüdischen Philosophen Lew Schestow stand, bleibt ebenso unerwähnt wie seine frühe literarische Prägung durch Wassili Rosanow.

Der «Säulenheilige ohne Säule» wird in Stölzels Darstellung wohl etwas vorschnell auf die unheilige Existenzform eines misanthropischen Zweckpessimisten redimensioniert, und zu offenkundig ist die Tendenz des Autors, bei Cioran das Werk am Leben, den Stil an der Person zu messen und dieses inadäquate Verfahren auch noch zur Grundlage entsprechender Wertungen zu machen. «Wenn Cioran Entsprechendes, so oder ähnlich, erlebt hat, dann ist er eigentlich noch stärker als der Leser zu bedauern, denn dieser kann sich – denn wer könnte hier verweilen? – wenigstens abwenden.» So verquält wie dieser unsägliche Satz ist Stölzels Verhältnis zu Cioran insgesamt, seine Begegnung, sein Gespräch mit ihm – ein acte gratuit.

Felix Philipp Ingold
Neue Zürcher Zeitung